Spins unter Kontrolle

Überblick

Superempfindliche Quanten-Sensoren haben das Potenzial, die Bildgebung in der Medizin, die Navigation oder die Informationstechnologie zu revolutionieren. Einem internationalen Forschungsteam unter Federführung von Wissenschaftler:innen des Exzellenzclusters ct.qmat ist ein Durchbruch gelungen, der den Weg dahin enorm verkürzen könnte: Die Forscher:innen haben gezeigt, dass sich Spin-Zustände von atomaren Defekten in Bornitrid bei Raumtemperatur kontrollieren lassen. 

 

Bornitrid ist ein technologisch interessantes Material, weil es eine zweidimensionale kristalline Struktur bildet – ähnlich dem „Wunderwerkstoff“ Graphen, der in den Laboren der Quantenphysiker:innen zum Einsatz kommt. Bornitrid eröffnet deshalb Wege zu elektronischen Bauelementen mit völlig neuen Eigenschaften. Bereits vor etwa einem Jahr gelang es Forscher:innen des Exzellenzclusters ct.qmat – Komplexität und Topologie in Quantenmaterialien erstmals, in einer extrem flachen Kristallschicht aus Bornitrid Spin-Zustände zu erzeugen und experimentell nachzuweisen. Jetzt haben die Forscher einen nächsten wichtigen Schritt geschafft: die Kontrolle über einzelne Spin-Zustände von Atom-Defekten in Bornitrid – und das bei Raumtemperatur, ohne aufwändige Kühlung. Als Spin wird in der Physik der Eigendrehimpuls von Teilchen bezeichnet.

 

Künstliche Fehlstellen im Atomgitter

Jedes Material besteht aus einem Atomgitter. Die Besonderheit von Bornitrid ist, dass die Quantenphysiker:innen auf dem zugrundeliegenden Atomgitter dieses Materials künstlich Fehlstellen erzeugen können. Erst diese Atom-„Defekte“ ermöglichen Spin-Zustände, die sich jetzt unter Alltagsbedingungen manipulieren lassen. Denn bislang konnten diese Zustände in Bornitrid nur unter ultratiefen Temperaturen kontrolliert werden. Als Grundvoraussetzung für wegweisende Quantentechnologien versprechen kontrollierbare Spin-Zustände neuartige technische Anwendungen.

 

Handkreisel, der sich dreht

„Stellen Sie sich einen Handkreisel vor, der sich um seine Achse dreht. Der Nachweis, dass so eine Art von Drehung in einer Schicht aus Bornitrid existiert, ist uns vor etwa einem Jahr gelungen. Und jetzt konnten wir den Kreisel beliebig steuern, ohne ihn dafür berühren zu müssen“, erklärt Andreas Gottscholl, Erstautor der Publikation, das Prinzip kontrollierbarer Spin-Zustände. „Diese kontaktlose Manipulation des Kreisels ist uns durch die rein optische Kontrolle mit einem gepulsten elektromagnetischen Wechselfeld gelungen.“ 


Die Forschungsergebnisse wurden im Journal Science Advances veröffentlicht. An der Publikation sind auch Gruppen der University of Technology Sydney und der Trent University in Kanada beteiligt.

 

Elektromagnetische Felder noch präziser messen

„Wir erwarten, dass Materialien mit kontrollierbaren Spin-Zuständen atomarer Defekte in der Sensorik viel präzisere Messungen elektromagnetischer Felder erlauben“, erklärt der leitende Würzburger Wissenschaftler Prof. Vladimir Dyakonov. Denkbare Einsatzgebiete seien die Bildgebung in der Medizin, die Navigation oder die Informationstechnologie. Ein Magnetresonanztomograph könne den Körper zum Beispiel sehr viel genauer scannen, wenn Quanten-Sensoren zum Einsatz kämen, so Dyakonov.

 

Elektronische Bauelemente mit Spin-dekorierten Bornitrid-Schichten

Das nächste Ziel des Forscherteams: Die Wissenschaftler:innen wollen einen künstlich gestapelten Kristall aus unterschiedlichen Materialien und elektronische Bauelemente herstellen. Der wesentliche Baustein dafür sind atomar dünne Bornitrid-Schichten, die Atom-Defekte mit einem manipulierbaren Spin-Zustand enthalten.


„Besonders reizvoll bei unserem nächsten Vorhaben ist es, die Spin-Zustände in den Bauelementen auch über elektrischen Strom zu kontrollieren statt nur optisch. Das ist völliges Neuland“, sagt Dyakonov.

Galerie

Daten & Fakten

13.04.2021

 

Förderer der Arbeit
Die beschriebenen Forschungen wurden gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Vladimir Dyakonov ist als Principal Investigator am Würzburg-Dresdener Exzellenzcluster ct.qmat beteiligt, in dem unter anderem Spin-Photonen-Schnittstellen erforscht werden.


Publikation
Gottscholl et al., Room Temperature Coherent Control of Spin Defects in hexagonal Boron Nitride, Science Advances 2021, 7, eabf3630, DOI: 10.1126/sciadv.abf3630


Kontakt
Prof. Dr. Vladimir Dyakonov, Lehrstuhl für Experimentelle Physik VI, Universität Würzburg, T +49 931 31-83111, vladimir.dyakonov@uni-wuerzburg.de 


Bildunterschrift v.l.n.r.
Schematische Darstellung der Kontrolle eines Spin-Zustands (rot) in einer atomaren Schicht aus Bornitrid. Bornitrid besteht aus Bor (gelbe Kugeln) und Stickstoff (blaue Kugeln). Der Atom-Defekt wird über einen Laser angesteuert. Über einen Magneten und Mikrowellenpulse (hellblau, aus unterliegendem Streifenleiter) kann der Spin beliebig manipuliert werden. (Bild: Andreas Gottscholl / Universität Würzburg)


Eine solche gestapelte Struktur wollen die Forscher als nächstes realisieren. Sie besteht aus metallischem Graphen (unten), isolierendem Bornitrid (Mitte) und halbleitendem Molybdänsulfid (oben). Der rote Punkt symbolisiert den einzelnen Spin-Zustand in einer der drei Bornitrid-Schichten. (Bild: Andreas Gottscholl / Universität Würzburg)

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